Ilse Schnittka

Ilse Schnittka (* 1939)

 

Ich bin in Berlin geboren und aufgewachsen und habe keinerlei polnische Wurzeln.

An der Humboldt-Universität in Berlin habe ich Slawistik mit dem Hauptfach Polonistik studiert. Zu Beginn meines Studiums wurde ich im Herbst 1960 für ein Studienjahr nach Polen delegiert, das ich in Lodz absolvierte. Über diese Zeit habe ich „Meine erste Begegnung mit Polen“ geschrieben.

 

Botschaft für die nachkommenden Generationen:

Polen - obwohl mitten in Europa gelegen und unser Nachbarland - prägt eine andere Kultur. Als Studentin hatte ich das Glück, anlässlich meines Studiums Land und Leute nicht nur schlechthin kennenzulernen, sondern auch ihre Kultur und Lebensweise zu verstehen. Gerade Toleranz gegenüber anderen Völkern und Akzeptanz anderer Lebensweisen sind in der heutigen Zeit eine unabdingbare Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben der Menschheit über Ländergrenzen hinweg. 

 

Auszug aus „Meine erste Begegnung mit Polen"

… Ein separates Wohnheim für Ausländer gab es nicht, ausländische und polnische Studenten wohnten in den Studentenheimen gemeinsam. Sehr schnell hatte es sich herumgesprochen, dass deutsche Studenten angekommen waren. Das Interesse, uns kennenzulernen war groß. Die polnischen Studenten konnten nicht deutsch, sie versuchten es mit englisch, aber das hatten wir ja in der Schule nicht gelernt. Wenn wir es mit russisch versuchten, gab es meistens keine Reaktion oder gar eine abfällige Bemerkung. Uns blieb nur übrig, so schnell wie möglich polnisch zu lernen. Ich hatte sehr rasch im Wohnheim einige polnische Studentinnen kennengelernt, mit denen ich abends öfter zusammensaß und schon bald zog ich um in ein Zimmer zu zwei Polinnen. Ich lernte sehr schnell nicht nur die polnische Sprache sondern auch eine andere Kultur kennen. …

Von Hause aus war ich streng atheistisch erzogen und wusste zu dem Zeitpunkt mit Glaubensfragen überhaupt nichts anzufangen. Mich verwunderte es sehr zu sehen wie Sonntags die Menschen die Plätze vor den Kirchen bevölkerten und auf Einlass zur Messe warteten, während in der Kirche bereits eine Messe gefeiert wurde. Eines Sonntags fragte mich meine Mitbewohnerin, ob ich mit zur Kirche käme. Ich verneinte, worauf sie mir erklärte, sie könne mich auch zu einer evangelischen Kirche begleiten. Doch auch das lehnte ich dankend ab, worauf prompt die Frage folgte, ob ich etwa Jüdin sei. Es war schwer zu erklären, dass ich keiner Glaubensgemeinschaft angehöre und für meine polnischen Mitbewohnerinnen war es überhaupt nicht leicht zu verstehen, dass man auch ganz ohne Kirche leben kann.

Dann kam der 1. November Wszystkich Swiat / Aller Heiligen, wie ich erfahren musste ein ganz besonderer Tag. Die Mädels wollten auf den Friedhof gehen und luden mich dazu ein. Ich konnte anfangs nicht so recht begreifen, warum sie auf einen Friedhof gehen, wenn sie dort doch keine Grabstätte eines Verwandten zu pflegen haben. Jedenfalls ging ich mit und sah voller Staunen die unzähligen Grabkerzen, die an den Gräbern nationaler Helden Ehrenwache haltenden Pfadfinder, die vielen Kerzen zum Gedenken an Verstorbene, deren letzte Ruhestätte man an diesem Tag nicht aufsuchen konnte. Von meinem Zimmer im Studentenheim aus hatte ich einen herrlichen Ausblick auf den Friedhof und noch in den Abendstunden konnte ich die brennenden Grabkerzen bestaunen. Der Friedhof war ein einziges Lichtermeer. …

Wir fuhren jeden Tag mit der Straßenbahn zur Universität. Morgens war die Straßenbahn wie überall in der Welt nicht nur voll sondern überfüllt. Die Leute waren daran gewöhnt, dass bei den Studentenheimen auch zahlreiche Ausländer zustiegen. Man drängelte sich in den Wagen, schubste, wurde angerempelt. Aber es gab keine unfreundlichen Worte deswegen. Nach einigen Tagen kannten uns die Schaffner und kontrollierten auch nicht mehr unsere Fahrausweise. Die meisten Menschen tolerierten uns, einzelne sprachen uns auch mal an, weil sie sich dafür interessierten, woher wir kamen und warum wir in Lodz waren. …

 

Unser Lektor war ein großer Freund der deutschen Studenten, obwohl er während der deutschen Okkupation schreckliches erlebt hatte. Darüber sprach er nur andeutungsweise. Wahrscheinlich wollte er uns nicht damit belasten. …

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