Anita Sikora

Anita Sikora (* 1975)

 

Ich bin Deutsche und auch Polin, in Polen geboren und in Deutschland aufgewachsen. Meine Mutter ist im deutschen Teil Schlesiens geboren, mein Vater im polnischen (beide sind vor dem 2. Weltkrieg geboren).

  

Botschaft für die nachkommenden Generationen:

 

Als ich nach meinem Studium für mehr als zwei Jahre in meine Geburtsstadt Katowice/Kattowitz gelebt habe, stieß ich bei meinen Recherchen zur Geschichte auf die Erinnerungen eines Kattowitzer Bürgers in deutscher Sprache: Walter Grünfeld. Es war so, also ob ein Großvater mir seine Erinnerungen mitteilt, Erinnerungen an die Zeit, in der mehrere Kulturen die Stadt Kattowitz/Katowice erbaut haben: die polnische, die deutsche, die jüdische und sogar die britische. Meine Botschaft für die Nachkommen der nächsten Generation ist: Multikulturalität hat Tradition und eine eigene Geschichte. Und diese Geschichte möchte ich hier anhand persönlicher Erinnerungen verschiedener Persönlichkeiten aus Katowice/Kattowitz (darunter auch meiner Schwester, die in Katowice geblieben ist und dort eine Familie gegründet hat) -  soweit es im Rahmen dieses Projekts möglich ist – erzählen und zwar u.a. in einer Hörsendung.


Die Stadt mit den zwei Namen und den zwei Bahnhöfen 

Auf meiner Magisterurkunde steht unter meinem Namen, woher ich komme, „aus Kattowitz/Polen“ nämlich. Mit der Nennung des deutschen Namens wird die deutsche Geschichte der heutigen in Polen liegenden Industriestadt angedeutet. Der polnische, offizielle und in Atlanten aufzufindende Name dieser Stadt ist seit 1922 (mit Ausnahme der Kriegsjahre 1939 bis 1945) Katowice (von 1953 bis 1956 hieß die Stadt Stalinogród, aber das ist eine ganz andere Geschichte). Katowice, heute die Hauptstadt der Wojwodschaft „Górny Śląsk“ (übersetzt Oberschlesien), ist eine dem Ruhrgebiet ähnliche Gegend. Da Kohle und Stahl in den vergangenen zwei Jahrhunderten so begehrt waren, wurde nach dem 1. Weltkrieg, als nach mehr als hundert Jahren der Teilung Polen wieder auf der Landkarte erschien, in Schlesien ein Referendum durchgeführt, um zu sehen ob einige Teile Oberschlesiens an Polen vergeben werden könnten, um dem jungen neu gegründeten Staat eine wirtschaftliche Starthilfe mitzugeben. Und da die Landbevölkerung um die prosperierende Industriestadt mehrheitlich für den Zuschlag zu Polen gestimmt hatte, wurde Kattowitz, dessen Einwohner mehrheitlich für einen Verbleib in Deutschland gewesen waren (aber knapp, mit 51,9 %), sozusagen über Nacht polnisch und damit zu Katowice.

Als ich im März 2014 wieder mal in meiner Geburtsstadt war, die ich 1981 ein paar Monate vor dem Kriegszustand in Polen mit meinen Eltern verlassen hatte, fiel zum ersten Mal bewusst auf, dass die Stadt ja nicht nur zwei Namen, sondern auch zwei Bahnhöfe hat, die sich als Metaphern für die Geschichtswahrnehmung in der Stadt begreifen lassen.

Der alte Bahnhof (links) aus vergangenen (deutschsprachigen) Zeit verfällt nach und nach in seiner Jahrhundertwendenschönheit, weil kein Investor zu finden ist, der den alten Gemäuern wieder Leben einflößen könnte und/oder möchte (das Gebäude ist in privater Hand). Mein älterer Neffe erzählt mir, dass in einem der Gebäude mal ein Klub war, aber dass sei wieder vorbei.

 

Erinnerungen an die deutschsprachigen Zeiten, wie die von Walter Grünfeld, gibt es noch wie den Bahnhof, aber wahrgenommen werden sie, so scheint es, ähnlich wie dieser Bahnhof: man läuft daran vorbei. Gleichzeitig aber steigt, wie bei meinem 26-jährigen Neffen, das Interesse an der deutschen Stadtgeschichte. Seine Generation spricht neben Polnisch meist nur Englisch. Sie sind auf Übersetzungen angewiesen und die sind Sache des Geldes, der Zeit und anderer Interessen.

Auf der rechten Seite erstrahlt der renovierte Bahnhof von Katowice in reflektierendem Glas. 2012 wurde der Umbau vollendet. Die Architektur des dunklen Stahlbetons, des Brutalismus aus dem Jahre 1972, den ich noch kennenlernen durfte, als ich 2005 und 2006 in Katowice gelebt habe, ist im Grundriss erhalten worden, aber alles wurde strahlender und heller. Die Empfangshalle wurde jedoch trotz vieler Proteste abgerissen und neu konstruiert. Und neben dem Bahnhof, ja mit dem Bahnhof verbunden, liegt nun ein Einkaufszentrum. Eine typische Entwicklung in Polen, soweit ich das sagen kann (siehe beispielsweise Kraków).

 

Die Siebziger sind in diesem Bau noch erhalten, aber unter vielen Schichten, und darauf, in neuen Materialien, erstrahlt die neue Zeit, die Zeit der Freiheit und auch die Zeit des Konsums.

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